Dokumentation: Festreden zur Namensgebung am 23.09.2022

Zur Dokumentation und auf Wunsch der Schulgemeinschaft werden an dieser Stelle alle uns schriftlich vorliegenden Reden vom Namensgebungsfest(23.09.2022) zum Nachlesen veröffentlicht.

Eröffnungsrede des Schulleiters zum Namensgebungsfest am 23.09.2022

 

Hannah Arendt über Pluralismus, Moral, Diskurs und das Böse:

„Selbst wenn ich Einer bin, bin ich nicht schlicht Einer; vielmehr habe ich ein Selbst und stehe zu diesem Selbst als meinem eigenen Selbst in Beziehung. Dieses Selbst ist keine Illusion; indem es mit mir spricht, macht es sich hörbar (ich rede mit mir selbst) und in diesem Sinne bin ich[…] Zwei-in-Einem und es kann Harmonie und Disharmonie mit dem Selbst geben. Wenn ich mit anderen Menschen nicht übereinstimme, kann ich weggehen; aber von mir selbst kann ich nicht weggehen[…]. Wenn ich Unrecht tue, bin ich dazu verdammt, mit einem Unrechttuenden zusammenleben; ich kann ihn nie loswerden. Ich kenne den Täter!

Böses tun heißt, diese Fähigkeit zu beeinträchtigen; der sicherste Weg für den Verbrecher, niemals entdeckt zu werden und der Strafe zu entkommen, ist, das was er tat, zu vergessen und nicht weiter darüber nachzudenken.

Gleichermaßen können wir sagen, dass Reue zuerst darin besteht, nicht zu vergessen, was man getan hat, indem man dahin zurückkehrt. Wenn ich mich weigere zu erinnern, bin ich eigentlich bereit, alles zu tun. Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten.

Und damit ist das größte Böse nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.“

 

In diesem kurzen Auszug aus einer Vorlesung von Hannah Arendt aus dem Jahre 1965 mit dem Titel: „Über das Böse“ macht uns die Autorin klar, dass Recht und Unrecht erst aus dem Diskurs entstehen – entweder mit uns selber oder mit anderen. Das Ringen um die beste Lösung macht eine friedliche Gesellschaft aus. Dies funktioniert nur in einer pluralistischen Gesellschaft, in der unterschiedliche Ansichten existieren und sei es nur in einem selbst, durch die man zur Erkenntnis von guten und bösen Taten gelangt.

Aber auch das Erinnern ist elementarer Bestandteil.

Nur durch das Erinnern wissen wir, was gut und böse war, indem wir uns an die Folgen unserer Handlungen erinnern und überprüfen, ob Sie Freud oder Leid hervorgebracht haben.

Arendt definiert damit eine wichtige Aufgabe an uns alle. Wenn wir in einer freien, demokratischen Welt leben wollen, dürfen wir nicht vergessen! Nicht vergessen, welche großartigen Taten Menschen geleistet haben, aber auch nicht vergessen, welche Abscheulichkeiten sich Menschen angetan haben und nach wie vor antun.

In diesem Sinne frage ich: Gibt es einen besseren Ort als die Schule, um sich an unsere Taten zu erinnern?

 

Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Eltern und Sorgeberechtigte, werte Gäste,

mit diesem kleinen philosophischen Exkurs – der wohl nach wie vor von ungebrochener Aktualität gekennzeichnet ist, begrüße ich Sie zu unserem Namensgebungsfest.

Besonders begrüße ich heute:

Den Staatssekretär des TMBJS Herrn Prof. Speitkamp

unseren Oberbürgermeister Herrn Bausewein,

unseren Schulamtsleiter Herrn Leipold,

die Bürgermeisterin Frau Hofmann-Domke,

unseren Ortsteilbürgermeister Herrn Czentarra,

den Leiter des Amtes für Bildung Herrn Dr. Ungewiss und seine Stellvertreterin Frau Wiesner,

meine hochgeschätzte Kollegin Frau Alt, Schulleiterin des Gutenberggymnasiums, und Ihren Stellvertreter Herrn Starke

und Frau Mamijeva, Vertreterin des Vereins Ukrainischer Landsleute.

 

Herzlich willkommen!

 

Wir sind heute alle zusammengekommen, um unserem 2015 gegründeten Gymnasium endlich offiziell einen richtigen Namen zu verleihen.

Wer hätte damals schon gedacht, dass sich unsere Schule – mit ca. 50 Schülerinnen und Schülern und 7 Lehrerinnen und Lehrern – zu einem Gymnasium mit fast 500 Schülerinnen und Schülern und fast 40 Kolleginnen und Kollegen entwickeln würde? Wer hätte damals gedacht, dass wir 2022 in einem neuen, voll digitalisierten Gebäude unterrichten dürfen? Wer hätte gedacht, dass wir jemals erfolgreiche Abiturienten hervorbringen würden?

Ja, ich habe es mir immer gewünscht, dafür gekämpft – wie wir alle. Aber es gab Zeiten, in denen auch ich zweifelte an unserem Weg. Aber mit der Unterstützung von Vielen,

mit dem außerordentlichen Engagement des Kollegiums,

mit der Unterstützung der Eltern und Sorgeberechtigten,

mit der Unterstützung der Stadt,

mit der Unterstützung des Schulamtes,

mit der Unterstützung des Ministeriums,

und nicht zuletzt mit eurer Unterstützung, meine geschätzten Schülerinnen und Schüler, haben wir es gemeinsam geschafft, diese Schule aufzubauen, zu entwickeln und uns fest in der vielfältigen Bildungslandschaft Erfurts als Größe zu etablieren.

Dafür möchte ich meinen tiefen Dank an Sie alle richten:

Danke für das Engagement und die Hilfe!

Danke für die konstruktive Kritik!

Und Danke für Ihr großes Vertrauen in uns als Schule und in dieses erfolgreiche Projekt!  

Unser gemeinsamer Weg ist noch lange nicht zu Ende. Die heutige Verleihung des Namens stellt einen weiteren wichtigen Schritt in unserer Entwicklung dar.   

Ich bin stolz darauf, dass wir uns heute den Name Hannah Arendt geben dürfen – in dieser Zeit!

In dieser verrückten Zeit.

Erst Corona, dann der Krieg – mit dem wohl keiner gerechnet hatte, als der Namensgebungsprozess durch die Schulkonferenz im November 2021 angestoßen wurde. Seit dem 24. Februar 2022 ist die Welt eine andere geworden. Gewonnene Wahrheiten haben sich als falsch erwiesen.

Die Phase des großen Friedens in Europa wurde beendet.

Wir mussten mit ansehen, wie erneut ein Krieg mitten in Europa begann, der globale Auswirkung hat und weitere Auswirkungen haben wird.

Nicht nur die Ukraine ist betroffen, sondern auch unsere Gesellschaft. Steigende Energie- und Lebensmittelpreise machen uns zu schaffen. Viele Menschen machen sich derzeit Sorgen, um Ihre Existenz, um unsere Zukunft – und das sicherlich zu Recht.

Wir müssen jedoch aufpassen, dass wir uns nicht noch weiter voneinander entfernen und uns spalten lassen. Die Polarisierung in unserem Lande hat nicht erst seit Corona zugenommen. Politische Debatten werden hitziger geführt als früher – manchmal auch mit unfairen Mitteln. Der ein oder andere traut sich gar nicht, seine Meinung kundzutun.

Im Sinne von Hannah Arendt halte ich diese Entwicklung für bedenklich. Meinungsfreiheit, Diskurs, Pluralität und Toleranz sind elementare Bestandteile unserer Demokratie. Ohne Toleranz und Diskurs, ohne das gewaltfreie Ringen um die beste Lösung macht Demokratie keinen Sinn.

Wir sollten dabei jedoch nicht in die Falle tappen, in die uns immer mehr selbst erklärte Freiheitskämpfer locken wollen und welche 1945 von Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ als Toleranz-Paradoxon bezeichnet wurde: Intoleranz, welche als Meinungsfreiheit getarnt wird, sollte nicht toleriert werden.

Intoleranz kann nicht toleriert werden!

„Die Würde des Menschen ist unantastbar!“, steht in Artikel eins unseres Grundgesetzes. Ein höchst beindruckender Satz, der da geschrieben steht und uns eigentlich tagtäglich in unserem Handeln und Tun begleiten sollte.

Doch was heißt das eigentlich, „die Würde des Menschen ist unantastbar“?

Es bedeutet, jeder Mensch ist wertvoll. Jeder Mensch hat eine Würde – allein durch seine Existenz – BEDINGUNGSLOS. Alle Menschen sind wertvoll, egal woher Sie kommen, egal welcher Religion Sie angehören oder welche Weltanschauung sie besitzen, egal welchem Geschlecht sie angehören.

Und trotz unserer Meinungsfreiheit verlassen all diejenigen, welche Hass und Hetze predigen, den Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie verlassen die Ebene des friedlichen Diskurses, sie verletzen Artikel 1 unseres Grundgesetzes.

Wir als Demokraten müssen uns gegen diese Angriffe auf unsere Gesellschaft zur Wehr setzen. Wir müssen aufstehen gegen die Despoten dieser Welt und wir müssen uns klar bekennen zu den Errungenschaften unserer Vorfahren und auch zu unserer grausamen und abscheulichen Geschichte – um wieder an die Überlegungen von Hannah Arendt anzuknüpfen.

Die Demokratie, der Wohlstand und der Frieden, in denen wir Jahrzehnte lang gelebt haben, lassen uns schnell vergessen, was notwendig war, um an diesen Punkt der Geschichte zu gelangen – weil wir diesen Zustand zu lange als selbstverständlich wahrgenommen haben. Viel Blut von Menschen aller Völker wurde vergossen, viel Leid wurde ertragen, viele Kämpfe wurden gefochten, damit wir heute in Frieden und Freiheit leben können.

Vor allem wir als Deutsche, die in der Vergangenheit unvergleichbare Verbrechen begangen haben, haben die historische Aufgabe, Frieden, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen und dafür einzutreten.

 

Mahadma Gandhi hat wohl einmal gesagt: „Die Geschichte lehrt den Menschen, dass die Geschichte den Menschen nichts lehrt.“ Es liegt nun an uns, diese These zu widerlegen. Es liegt an uns, zu zeigen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben und dass unsere Fehler und die großen Opfer nicht umsonst waren. Wir haben die Macht dazu.

Jeder Einzelne unter uns hat die Chance und Fähigkeit, seinen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten. Jeder Einzelne von uns kann den Unterschied machen, zwischen einer Welt, die im Chaos versinkt, oder einer Welt in Frieden und Freiheit. Natürlich wird es einfacher, wenn wir das Ziel einer friedlichen und gerechten Welt gemeinsam verfolgen!

 

Der Name Hannah Arendt – den wir heute unserem Gymnasium geben – ist damit nicht nur eine Ehre für unsere Schule – weil Hannah Arendt mit Ihren Schriften und Ihrem Wirken wohl zu einer der herausragendsten Denkerin des 20. Jahrhunderts gehört –, sondern er ist gleichsam eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung, daran zu arbeiten, diese Welt und unsere Gesellschaft tagtäglich besser zu machen, den Diskurs zuzulassen und zu fördern.

Und wenn wir uns dieser Aufgabe stellen, haben wir die Chance, die These Gandhis zu wiederlegen und zu zeigen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben; dass wir Unrecht nicht mehr zulassen wollen und dass wir in Zeiten der Bedrohung zusammen stehen und uns gegenseitig stützen; dass Freiheit, Pluralität, Meinungsfreiheit, Chancengleichheit, Demokratie, körperliche Unversehrtheit und Frieden nicht nur leere Worthülsen sind, sondern dass wir diese brauchen, um in Glück zu leben, wie wir die Luft zum Atmen benötigen und dass wir bereit sind, diese Werte auch unter Opfern zu verteidigen – wobei die soziale Gerechtigkeit dabei nicht auf der Strecke bleiben darf.

Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Diesen prägendsten Leitgedanken unserer Demokratie, sollten wir uns ab sofort immer wieder erneut ins Gedächtnis rufen, wenn wir unser Schulgelände betreten und ihn im gegenseitigen Miteinander am Hannah-Arendt-Gymnasium  weiter leben und stärken. Damit wir uns stets im Sinne unserer Namenspatronin daran erinnern. Denn nur, wenn wir uns erinnern, können wir unsere Handlungen bewusst beeinflussen und Gutes tun.

Das ist unsere Aufgabe – als einzelner Mensch, als Schulgemeinschaft und als gesamte Gesellschaft!   

 

Der heutige Festakt ist ein Symbol für unser Bekenntnis zu Einigkeit und Recht und Freiheit und ich freue mich sehr, dass Sie heute alle erschienen sind, um diesen Moment mit uns zu teilen.

 

 

Vielen Dank!

 

Autor: Andreas Leube

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